Der Kannada-Kurs ist für 7:45 in der Stadt verabredet, um mit unser Lehrerin Sneha die „Thread Ceremony“ (Upanayana) ihres 8-jährigen Cousins Nikhil zu besuchen. Ich soll irgendetwas indisches anziehen und in Ermangelung eines Saris ziehe ich meinen schicksten seidenen Salwar-Kameez aus dem Schrank. Meine beiden Mitstudentinnen sagen im letzten Moment ab, und so bin ich das einzige Nicht-Familienmitglied und werde wie ein Ehrengast behandelt. Alle wollen wissen, wer ich bin, und sind höchst beeindruckt, dass ich Kannada lerne!
Die Zeremonie um den „heiligen Faden“ der Brahmanen gilt als wichtiger Schritt des Eintritts ins Erwachsenenlebens und ist der traditionelle Beginn der religösen Studien. Sie findet im Alter zwischen 8 und 14 statt, der optimalen Aufnahmefähigkeit für neu erlerntes.
Der 8jährige Nikhil ist seit 3 Uhr nachts auf den Beinen, da die zentrale Zeremonie für 9:30 bis 10:30 angesetzt wurde (die passende Zeit legt ein Astrologe fest, das passiert auch bei Hochzeiten und allen anderen wichtigen religiösen Zeremonien) und vorher noch diverse andere Rituale vorgenommen werden müssen. Wir kommen gerade rechtzeitig an, um der Kopfrasur beizuwohnen. Dabei wird der Kopf geschoren, als Zeichen dafür, dass keinerlei Eitelkeit um die Frisur
den kleinen Brahmanen von seinen Studien ablenken soll. Ein kleiner Haarschopf bleibt aber stehen, um den zentralen Bereich des Gehirns vor der Sonne zu schützen. Da Nikhil anschließend keine spezielle religiöse Schule besucht, sondern weiterhin in die normale Schule geht, fällt die Tonsur sehr großzügig aus und sieht eher aus wie ein etwas zu kurz geratener Topfschnitt! Haare schneiden zählt übrigens zu den niedrigsten Tätigkeiten und weder der Friseur noch Nikhil dürfen während der Prozedur berührt werden.
Nachdem Sneha mir noch den Rest ihrer Familie vorgestellt hat (überwiegend Tanten und Großonkel und deren Nachwuchs) haben wir Zeit für ein schnelles Frühstück – mein erstes Essen nur vom Bananenblatt, ohne Teller drunter! Ich bekomme ein extra großes, dass ich wie alle anderen mit einem Schluck Wasser begieße und dann mit der (rechten!) Hand trockenwische. Drauf gibt es dann Kokos-Chutney, Dhal (Linsen), Dosa, Gemüsereis und Dessert. Keine Zeit für Nachschlag oder Kaffee, wir müssen einen Stock höher – Nikhil ist schon an uns vorbeigeflitzt, gleich geht es weiter auf einer großen Bühne mit den zentralen Ritualen! Die lassen sich am besten anhand der Bilder beschreiben.
In die Reihe der Gratulanten reihe ich mich dann auch mit einem kleinen Geldschein ein. Dafür bekomme ich später von Nikhils Mutter einen roten Punkt auf die Stirn und gelbes Curcuma seitlich vor die Ohren getupft, außerdem zwei Süßigkeiten zum Mitnehmen.
Die Feierlichkeiten gehen dann noch fast den ganzen Tag weiter, aber auf meine Kannada-Lehrerin und mich wartet zu viel Arbeit, um zum Mittagessen zu bleiben. Sneha schält sich noch schnell aus ihrem Sari, den sie – samt passendem Halsschmuck – von ihrer Mutter ausgeliehen hatte, und wechselt in einen alltagstauglicheren Salwar-Kameez.

Erst anmelden, dann Kommentar hinterlassen.