Der Kannada-Kurs ist für 7:45 in der Stadt verabredet, um mit unser Lehrerin Sneha die „Thread Ceremony“ (Upanayana) ihres 8-jährigen Cousins Nikhil zu besuchen. Ich soll irgendetwas indisches anziehen und in Ermangelung eines Saris ziehe ich meinen schicksten seidenen Salwar-Kameez aus dem Schrank. Meine beiden Mitstudentinnen sagen im letzten Moment ab, und so bin ich das einzige Nicht-Familienmitglied und werde wie ein Ehrengast behandelt. Alle wollen wissen, wer ich bin, und sind höchst beeindruckt, dass ich Kannada lerne!
Vor der Kopfrasur darf Nikhil zum letzten Mal vom Teller seiner Mutter essen. Sie füttert ihn mit allen möglichen Leckereien (entsprechend zufrieden sieht er auch aus). Ab jetzt darf er nur noch von seinem eigenen Teller essen. Hinter ihm steht sein Vater.
"Und was kommt jetzt?" Traditionellerweise hätte Nikhil zum Haareschneiden auch auf dem Schoß seines Vaters sitzen dürfen. Aber er ist schließlich schon groß!
Nach und nach versammeln sich fast alle Anwesenden im Hof, um der wichtigen Prozedur beizuwohnen.
Nikhil legt mit Hilfe des Priesters das traditionelle Gewand an.
Hier wird mit einem Tuch symbolisiert, dass Nikhil ab jetzt getrennt von seiner Familie leben wird (Mutter, Vater und kleine Schwester stehen dahinter), da er nach alter Tradition eine Priesterschule besuchen würde.
Hier das Kernstück der Zeremonie: der heilige Faden. Er wird über den Kopf und eine Schulter gelegt, wie eine Schärpe.
Diese Geste sieht man auch im Tempel: die Hände werden immer wieder kurz übers Feuer gehalten ...
... und dann nacheinander Gesicht, Brust usw. berührt.
Nikhils Vater schreibt mit seinem Ring heilige Texte in Reis.
Auch dies ist ein sehr wichtiger Teil der Zeremonie: Verborgen unter einem Seidentuch, flüstert sein Vater Nikhil geheime Brahmanentexte ins Ohr. Diese werden nur vom Vater zum Sohn weitergegeben.
Früher musste der Brahmanenjunge nach der Zeremonie zu seiner Lehrstätte tief im Wald pilgern. Dafür bekam er einen Zweig mit Blättern mit auf den Weg: der Ast dient als Waffe gegen aufdringliche Tiere, die Blätter als Nahrungsmittel.
Auf dem Weg in seinen Gurukul, wie die Lehrstätten heißen, hätte Nikhil um Essen betteln müssen. Dies wird symbolisiert, indem zuerst seine Mutter und dann seine Onkels ihm Essen geben - überwiegend Süßigkeiten, die dann wieder weggepackt werden.
Die Zeremonie um den „heiligen Faden“ der Brahmanen gilt als wichtiger Schritt des Eintritts ins Erwachsenenlebens und ist der traditionelle Beginn der religösen Studien. Sie findet im Alter zwischen 8 und 14 statt, der optimalen Aufnahmefähigkeit für neu erlerntes.
Der 8jährige Nikhil ist seit 3 Uhr nachts auf den Beinen, da die zentrale Zeremonie für 9:30 bis 10:30 angesetzt wurde (die passende Zeit legt ein Astrologe fest, das passiert auch bei Hochzeiten und allen anderen wichtigen religiösen Zeremonien) und vorher noch diverse andere Rituale vorgenommen werden müssen. Wir kommen gerade rechtzeitig an, um der Kopfrasur beizuwohnen. Dabei wird der Kopf geschoren, als Zeichen dafür, dass keinerlei Eitelkeit um die Frisur
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